Montag, 23. März 2015

Virtuos verspielt

Eine Kurzgeschichte zum Thema »verspielt«, die eine Metapher enthalten sollte. Ich verfasste sie auf dem Boden liegend und erfreute mich so mancher Zweideutigkeit. Zumindest 14 Anspielungen auf den eigentlichen Inhalt habe ich gefunden, wer findet sie alle oder gar mehr?

31. Januar 2014



virtuos verspielt


An den tosenden Applaus, unter dem die Aufführung begonnen hatte, erinnerte sich weder das Publikum noch der Virtuose. Viel zu gefangen waren sie alle von dem makellosen Spiel, das langgezogene, ruhige Töne aneinander setzte, zwar vorhersehbar, doch beruhigend in dieser Sicherheit. Niemand dachte auch nur daran, dass dieser Zustand des körperlosen Schwebens jemals enden könnte – und dennoch gab es diesen einen Augenblick, der nie wieder vergessen gemacht werden konnte und das Stück in seiner Qualität maßgeblich veränderte: Dem Virtuosen unterlief ein Fehler. Nur eine kleine Turbulenz zwar, ein leichtes Zittern, doch er schlug ein wie ein Paukenschlag. Für einen kurzen Moment stockte dem Publikum der Atem – was sollte nur aus ihrer Welt werden, die sie sich im ewigen Einklang eingerichtet hatten? Die klangvolle Ruhe war nun vorbei und voll Sorge richteten sie ihr Ohr wieder dem Virtuosen zu. Noch hofften sie, er hätte sich wieder gefangen – doch nein! Durch den Fehler aufgerüttelt präsentierte er stolz sein verloren geglaubtes Können, nicht nur vom Blatt zu spielen, sondern die Noten intuitiv in sein Instrument zu schicken. Dies war sogar recht einfach, wenn man einem Satz von Regeln folgte – das Ergebnis hingegen bezauberte durch seine nie dagewesene Eleganz: die künstliche Sterilität war der Natürlichkeit gewichen. Entzückt fanden einzelne Hände wieder rhythmisch zueinander, andere wurden zu Augen geführt, um Tränen der Freude wegzuwischen. Allen gemein war dabei ein körperweites Gribbeln, das nach mehr verlangte. So schuf er neue Fehler, verband sie mit den alten zu komplexen Signaturen, lies diese miteinander interagieren und zu hellem Glanz erstrahlen. Jedem war offenbar, von welcher Schönheit diese melodiösen Sonnen waren, denen der Schatten zur Gänze ausgetrieben war – doch kaum jemand achtete auf die kleinen Randstücke und Lückenfüller, welche die letzten Fehlerchen beinhalteten, die noch als solche erkennbar waren. Es wäre dem Virtuosen ein Leichtes gewesen, diese mit dem Zentralkomplex zu verbinden oder völlig vergessen zu machen, allerdings suchte er nach einer wirklichen Herausforderung, die er nun in einem gänzlich unwirtlichen Stück Tonalität gefunden hatte. Das Publikum wollten seinen Ohren nicht trauen, als er anfing, diesen Fehler mit Mühe zu kultivieren. Kantig und schroff präsentierte er sich, völlig lieblos und starr. Die weichen Töne aber, die der Virtuose beimischte, verfehlten ihren Zweck nicht. Es wäre seiner Anstrengung nicht angemessen, zu sagen, nach kurzer Zeit hätten sich Erfolge eingestellt, aber als er einmal den rechten Dreh gefunden hatte, gab es kein Halten mehr. Die tonale Komplexität explodierte förmlich und es war ihm schwer, allen Entwicklungen gerecht zu werden. Ein Instrument allein genügte nur, um die glänzensten Tonfolgen weiterhin zu betrachten – diejenigen, die sich überlebt hatten, ließ er im guten Gewissen, dass sie ihren Zweck erfüllt hatten, aussterben. Das Publikum störte sich daran nicht, viel zu sehr war es auf die immer ausgefeilteren Geschöpfe fixiert, die sich in ihren Ohren manifestierten. Der Applaus, der sich dabei einstellte, war ohrenbetäubend, man begann sogar, mit den Füßen zu stampfen – und dann musste der Virtuose plötzlich niesen. Sein Instrument glitt ihm beinahe aus der Hand – dem Publikum verschlug es den Atem – und er rettete sich mit einigen kleinen Melodien, die er sich für solch einen Moment aufgespart hatte. Sie waren nichts im Vergleich zu der vorherigen Pracht, doch genügsam. So konnte er sich sammeln und zur allgemeinen Freude das Spiel wieder aufnehmen. Die alten Töne hatte er vergessen, man könnte sie in den Aufzeichnungen nachlesen – nun galt es, die verbliebene Idee zu vollem Glanz anwachsen zu lassen, denn seine Zeit neigte sich dem Ende zu, es war kurz vor Zwölf. Das Finale freilich musste er nicht allein absolvieren. Auf sein Zeichen hin liefen seine beiden Kinder – noch jung, aber dem Talent nach nicht am falschen Ort – auf die Bühne und spielten freudig verschiedene Melodien weiter, die er ihnen zur Auswahl vorlegte. Dies war nicht immerzu hochwertig – was sollte man auch erwarten? –, aber durchaus nett anzusehen, zumal der Virtuose im Hintergrund die Ordnung aufrecht erhielt. Die Fehler der beiden waren dabei von einer völlig anderen Qualität, so übereifrig und erfrischend. Mit genügend Zeit würden sie denen ihres Vaters in nichts mehr nachstehen oder diese sogar übertreffen. Die genaue Art der Zukunft war jedoch nicht mehr Bestandteil dieser Vorführung über das Gestern der Welt bis zur Hochzeit der menschlichen Rasse – und daher fiel der Vorhang.

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